Zahlen, Daten Fakten

Am 31.10.2020, wurde der Flughafen BER mit 9 Jahren Verspätung eröffnet. Dazu titelte die Tagesschau: Wird der BER sich jemals rechnen? Ein anderes Beispiel zum Thema „Corona“ aus dem SWR: Die Restaurants in der Schinkenstraße von Mallorca dürfen zaghaft wieder öffnen, aber reichen diesen Restaurants die verminderten Umsätze, um die Coronakrise heil zu überstehen? Die pointierte journalistische Gegenüberstellung von Fakten und deren Bedeutung für die Zukunft verunsichert und ängstigt viele Menschen, manche erleiden sogar einen leichten Schock.

Was sind denn diese Fakten, welche Bedeutung für die Zukunft haben sie? Diese Fragen beschäftigen jeden von uns, gerade in Krisenzeiten. Und zur Beantwortung dieser Fragen wird gern wissenschaftlicher Rat hinzugezogen.

Die Formulierung der obenstehenden Fragen suggeriert, dass es bestimmte Fakten, die eine Zukunft oder die wahre Wissenschaft als solche gibt.

Eine Erfahrung über die Wahrnehmung von Fakten

Vor ein paar Jahren ist mir folgendes passiert: ich ging mit einer Bekannten früh am Morgen die Treppen zu einer S-Bahn Haltestelle nach oben. Wir unterhielten uns, als plötzlich ein Schrank von einem Mann vor uns auftauchte. Er sah verwirrt aus. Meine Bekannte strauchelte einen Moment später, fing sich aber. Nach meiner Meinung war sie bloß mit den Schuhen an einer Treppenstufe hängen geblieben; ich wollte sie für ihre Unaufmerksamkeit schon fast tadeln… Ein hinter uns gehendes Kind rief gleichzeitig laut zu seiner Mutter zu: „Mama, Mama, der Mann hat die Frau (meine Bekannte) mit der Faust auf Ohr geschlagen.“ Und tatsächlich griff sich meine Bekannte ans Ohr und nahm sich ihren zertrümmerten Ohrring aus dem Ohrloch, noch immer etwas benommen. Sie fragte mich geschockt: „Hat der Mann mich tatsächlich geschlagen?“ Sie schien den Schlag als solchen auch nicht richtig mitbekommen zu haben. Später kam sie zu der Schlussfolgerung, dass es so gewesen sein musste, denn ihr Ohr war so heiß… Der Schrank von einem Mann aber verzog sich mit unruhigen, roboterartigen Bewegungen in einen naheliegenden S-Bahn-Tunnel.

Das Interessanteste an dieser Erfahrung war der ein paar Wochen spätere Termin bei der Polizei zur Identifizierung des Täters. Der Täter hatte im Laufe des damaligen Tages noch auf einen S-Bahn-Fahrgast mit einem Messer eingestochen (dieser überlebte schwerverletzt). Ich habe den Täter auf den Fotos der Polizei nicht erkannt. Erst, als sein Bewegungsmuster auf einem Video gezeigt wurde, konnte ich den Mann identifizieren. Übrigens: Meine Bekannte konnte den Mann schon auf den Fotos der Polizei identifizieren…

Mir erscheint es wirklich erstaunlich, dass drei Menschen einen einzigen Vorfall so unterschiedlich wahrnehmen konnten, wie oben beschrieben: die Betroffene merkte offenbar zuerst nicht, dass sie geschlagen wurde; ich wollte die Betroffene für eine vermeintliche Nachlässigkeit ermahnen (und habe es Gottseidank nicht getan!); nur ein Kind gab den Sachverhalt richtig wieder. Und auch die Konsequenzen aus der jeweils individuellen Wahrnehmung waren je nach Einschätzung unterschiedlich. Noch mehr gab mir zu denken, welche Wahrnehmungen Erinnerungen auslösen.

Für Kriminologen ist dies Alltag.

Unaufmerksamkeitsblindheit

Unaufmerksamkeitsblindheit in der Psychologie ist eine „Blindheit“ aus Unaufmerksamkeit, bei der Menschen gegebene Objekte oder Inhalte einfach nicht wahrnehmen, weil ihre Aufmerksamkeit abgelenkt oder überfordert ist. Dabei können dieselben Inhalte oder Objekte für andere Menschen unübersehbar augenfällig sein! Es hängt tatsächlich von unserer Erwartung ab, was wir wahrnehmen. Unabhängig von unserer Erwartung ist auch die Ähnlichkeit zu bekannten oder unbekannten Prozessen ein Kriterium dafür, ob wir „blind“ gegenüber offensichtlichen Objekten der Wahrnehmung sind, oder nicht.

Das Phänomen ist sehr interessant und kann in seiner umfassenden Bedeutung in diesem Artikel nicht ausreichend gewürdigt werden. Das Phänomen erstreckt sich auch auf Taubheit aus Unaufmerksamkeit (nicht zuhören…), bei der tatsächlich nicht gehört wird, weil die anderen Sinne zu beschäftigt sind. Unaufmerksamkeitsblindheit ist auch die Basis für die meisten Zaubertricks.

Auch in der Philosophie ist dieses Phänomen bekannt: Was ist wirklich, was wird als Wirklichkeit wahrgenommen? Beispielsw. hat der Philosoph Immanuel Kant 1781 in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ schon nachgewiesen, dass wir mit unseren Sinnen nur das wahrnehmen, was wir auch in uns selbst wahrnehmen. Wir nehmen nicht wahr, was wir uns nicht vorstellen können. Für seine „Kritik der reinen Vernunft“ (und diese reine Vernunft ist die Basis für unsere heutigen Naturwissenschaften!), ist Kant’s Werk als einer der bedeutendsten Beiträge zur Philosophie gewürdigt worden.

Schlussfolgerungen für Fakten, Wissenschaft und Zukunft

Warnungen, Bedenken und Befürchtungen sind die Hauptinformationen, die wir aus den Medien erhalten. Diese haben in Krisenzeiten einen bedrückenden Charakter. Ihre tatsächliche Aussagekraft für die Zukunft ist beschränkt, die erzeugte Aufregung dagegen ist meistens groß: Journalisten kennen die Zukunft genauso wenig, wie wir Otto Normalverbraucher. Die negativen Prognosen von Journalisten sind also keine Tatsachen, sondern nur journalistische Vorstellungen von der Entwicklung von Tatsachen: ähnlich, wie die unterschiedlichen Perspektiven, die ich in meiner persönlichen Geschichte beschrieben habe.

Auch wissenschaftliche Erkenntnis ist grundsätzlich divers. Es gibt Gründe, die für die eine wissenschaftliche Hypothese (eine mehr oder weniger gut begründete zeitgemäße unbewiesene Annahme über die Wirklichkeit) sprechen, und es gibt andere Gründe, die für andere, von der ersten Hypothese abweichende und deswegen nicht minder wissenschaftliche, Hypothesen sprechen. Darüber streiten Wissenschaftler, sie sind sich nicht einig. Fakten sind interpretierbar. Die Interpretierbarkeit von Fakten ist überhaupt die Basis für eine Weiterentwicklung in den Wissenschaften, sonst bliebe wissenschaftliche Erkenntnis stehen.

Den Streit zwischen unterschiedlichen Hypothesen hat es in der Wissenschaft schon immer gegeben, er ist u.a. in der Medizin umfassend belegt. So gilt beispielsweise heute der Arzt Ignaz Semmelweis als Entdecker des Kindbettfiebers. Die von ihm entwickelten Regeln für Krankenhaushygiene sind heute die Basis für den Betrieb moderner Krankenhäuser. Zu seinen Lebzeiten erlebte Semmelweis für diese Erkenntnis überhaupt keine Anerkennung, im Gegenteil. Er wurde von vielen Ärzten der damaligen Zeit, unter anderem von dem prominenten Pathologen Rudolf Virchow, bis an sein Lebensende als medizinischer Nestbeschmutzer betrachtet. In Berlin wurde für Virchow zu seinen Lebzeiten ein Klinikum errichtet, das heute ein Teil der Charité ist. Heute wissen wir, dass Semmelweis richtig lag und Virchow nur viel einflussreicher war.

Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftlern mit Einfluss und Tatsachen ohne Einfluss trübt auch heute die Erkenntnis in allen Zweigen der Wissenschaften. Aus diesem Spannungsverhältnis heraus werden in unserer Gesellschaft mehr oder weniger gute Entscheidungen gefällt. Man sollte sich aber aus diesem Grund nicht um unsere Zukunft grämen, weil die Welt der Einflussreichen die Wahrheit offenbar nur für eine gewisse Zeit aufhalten kann.

Das ist eine gute Perspektive.