Sinn und Zweck der Ausführungen

Im Folgenden soll betrachtet werden, warum wir manchmal den Eindruck haben, nicht wir selbst zu sein oder neben uns zu stehen. Der Eindruck kann auch sein, nie mehr so stark sein zu können, wie wir einmal waren; unser Körper ist nicht mehr verlässlich. Oder: Die Zeit des eigenen Lebens ist verspielt, oder man hat einen gravierenden Fehler wiederholt. Es geht insgesamt darum, wie man aus diesen und ähnlichen Situationen, in denen man feststeckt oder festzustecken glaubt, wieder herauskommt und eine neue Perspektive entdeckt. Neu und stark, wie Phoenix aus der Asche.

Unser biologisches Ich

Wir alle sind Nachfahren einer Gruppe von ca. 2000 Menschen, die den Vulkanausbruch des Toba auf Sumatra vor ca. 74000 Jahren überlebt haben. Die meisten von uns sind danach miteinander verwandt. Seit dieser Zeit hat sich der Homo Sapiens auf eine Anzahl von über 7 Milliarden (7 mit 9 Nullen) Menschen entwickelt. Dies trotz aller Gefahren des Lebens, Kälte, Hitze, Nahrungsmangel und trotz aller Widersacher und Feinde. Und diese Menschenspezies beeinflusst wie keine andere Spezies je zuvor das Weltklima und die anderen Lebewesen dieses Planeten.

Damit ist der Mensch eines der erfolgreichsten Geschöpfe, die unser Planet Erde je gesehen hat. Nicht moralisch gemeint, allein auf die biologische Überlebensperspektive bezogen. Sie wissen ja: Viele andere Tiere sind heute schon ausgestorben oder vom Aussterben bedroht!

Wie unser biologisches Ich in der Natur lernt

Unser biologisches Ich lernt durch Assoziationen. Dabei merken wir uns bspw. Orte, an denen es Nahrung gibt und Orte, an denen Gefahr lauert, quasi automatisch. Damit wir nicht lange nachdenken müssen, werden die Lerninhalte des assoziativen Lernens mit Emotionen verknüpft. Angst signalisiert uns dann, dass wir uns von einem Ort besser fernhalten; wenn wir uns wohl fühlen droht uns keine Gefahr und wir können uns erholen.

Wenn unser biologisches Ich an einen Ort kommt, an dem es noch nie war, stellt es automatisch  Ähnlichkeiten (Assoziationen) mit der ursprünglichen Erfahrung fest. Entsprechend wird es an einem neuen Ort Nahrung oder Gefahr vermuten und auf sein körperliches Überleben bezogen handeln. In der freien Natur und in naturverbundenen Gesellschaften ist diese übrigens ausgesprochen schnelle Art des Lernens ein echter Vorteil im Kampf ums Überleben.

Wie unser biologisches Ich in der modernen Gesellschaft lernt

Eine menschliche Gesellschaft erfüllt ihren Zweck, wenn sie die Sicherheit des Körpers durch ausreichende Nahrung und Schutz vor Hitze, Kälte und Verletzungen und die Fortpflanzung der Mitglieder durch Nachwuchs erfüllt. Diese Grundbedürfnisse versteht das assoziative Lernen, darauf ist es ausgerichtet. Dies ist die biologische Basis für den Erfolg der Spezies des Homo Sapiens.

In der modernen westlichen Zivilisation haben wir einen Erfahrungshintergrund, der über diese Grundbedürfnisse hinausgeht. Wir erleben Überfluss, soziale Netzwerke, Firmen, ständige Erneuerung bei Menschen, Produkten und Dienstleistungen, Freizeit, Kunst, Ablenkung, Werbung und Kultur u.v.a. mehr.

Die Lebenswirklichkeit unserer Grundbedürfnisse reicht in eine sekundäre Wirklichkeit hinein. Unser biologisches Überleben hängt von dieser sekundären Wirklichkeit nicht gleichermaßen ab, wie von der Erfüllung der Grundbedürfnisse. Die Nichterfüllung der Grundbedürfnisse bedeutet den physischen Tod, die der sekundären Wirklichkeit vor allem Unannehmlichkeiten.

Das assoziative Lernen unseres biologischen Ichs behandelt Grundbedürfnisse und sekundäre Wirklichkeit in gleicher Weise, es kann diese nicht unterscheiden. Deshalb leiden manche Menschen wie vom Tod bedroht, wenn jemand ihre Überzeugungen, ihren Glauben, den Sieg der favorisierten Fußballmannschaft etc. nicht teilt oder wenn die Konkurrenz wieder zugeschlagen hat. Oder man leidet, weil die versendete WhatsApp gelesen wurde, aber noch nicht beantwortet ist und grübelt, was soll das bedeuten?

Es geht in Lebensbereichen der sekundären Wirklichkeit natürlich nicht ums Überleben! Man glaubt aber entsprechenden Eindrücken des biologischen Ich, weil damit starke Gefühle und Körperempfindungen verbunden sind, die den individuellen Handlungsspielraum einschränken und einen glauben machen, man müsse den damit suggerierten Handlungsimpulsen folgen.

Wie erkennt man das biologische Ich

Das biologische Ich ist aktiviert, wenn

  • negative Emotionen (Angst, Unruhe, Unsicherheit, Schuldgefühle etc.) ohne Bedrohung der Sicherheit des eigenen Körpers durch Waffen, Fressfeinde oder Naturgewalten (Todesgefahr) unser Leben beeinflussen. Partner, Chefs, Kollegen, Mitarbeiter, Kunden, Kinder und die Schwiegerfamilie stellen keine Todesgefahr dar.
  • man sich klein (machtlos) fühlt, wenn das Problem groß ist und man nur wenig bis gar keinen Einfluss auf das Problem hat.
  • man etwas versucht, was nicht geht. Bspw.: die Zukunft sicher machen. Es kann ja immer etwas passieren, auf dass wir keinen Einfluss haben.
  • das eigene Denken durch Katastrophenszenarien und von der Vorstellung, dass es ein Ende gibt, bestimmt wird. Man hat jede Menge Scheingründe (Rationalisierungen), warum die Auseinandersetzung mit (vorgestellten) Katastrophen erforderlich ist.
  • man sich zum eigenen Nachteil mit anderen nach scheinbar objektiven und damit überpersönlichen Kriterien, deren Wert man nie selbst überprüft hat, vergleicht.

Das biologische Ich ist noch in vielen anderen Situationen aktiviert, deren Darstellung die vorliegende Betrachtung übersteigt. Die oben genannten Punkte sind aber Standardmerkmale.

Die Suggestionen des biologischen Ichs sind nicht wahr

Die Annahme dieser Ausführungen besteht darin, dass das assoziative Lernen als Instrument des biologischen Ichs dabei behilflich ist, die Grundbedürfnisse für das Überleben unseres physischen Körpers hervorragend zu lösen.

Eine weitere Annahme besteht darin, dass das assoziative Lernen in einer menschlichen Gesellschaft mit Bedürfnissen, die über das physische Überleben hinausgehen, zu unsinnigen Konsequenzen führt, weil Ereignisse ohne Bedeutung für das eigene Überleben so wichtig werden, wie überlebenswichtige Ereignisse.

Paare beispielsweise, die sich trennen, können zwar Wut, Trauer oder Panik und Weltuntergang verspüren. Das biologische Ich suggeriert ja das Ende.

Es geht aber bei der Trennung nicht um Todesgefahr, sondern vielleicht um Ärger über sinnloses Bemühen, Enttäuschung oder man weiß nicht, wie es weitergeht und unangenehme Anstrengung. Die meisten Menschen überleben bekanntermaßen die Trennung.

Jede nüchterne Betrachtung würde zum Ergebnis kommen: Alle Suggestionen des biologischen Ichs sind nicht wahr, wenn es nicht um das Ende des physischen Körpers geht.

Schlussfolgerung

Wenn das biologische Ich aktiviert ist, ist eine Antwort auf die Frage erforderlich, ob es ums Überleben des eigenen Körpers geht oder nicht. Allein, wenn dieser Gedanke gedacht werden kann, sind wir nicht in Todesgefahr: Wir können in Todesgefahr gar nicht denken. Wenn es nicht um den Tod unseres Körpers geht, sind die damit verbundenen Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen letztlich nicht wahr, weil sie sich auf eine sekundäre Lebenswirklichkeit beziehen. Unser physisches Dasein wird weitergehen– egal ob wir das wollen, oder nicht. Es lohnt sich, diesem Gedanken Raum zu geben!