Teil 2, nach dem Buch „Triumphs of Experience bei amazon“, George E. Vaillant

 

Liebe

Als Dr. Camille fast 70 Jahre alt war wurde er gefragt, was er von seinen Kindern gelernt hatte. „Wissen Sie, was ich von meinen Kindern gelernt habe?“ platzte er heraus, Tränen in den Augen. „Ich habe gelernt zu lieben!“ Dies bestätigte ein späteres Interview mit Camille’s Tochter, das vom Autor des Buches Triumphs of Experience als eines der liebevollsten und schönsten Interviews bezeichnet wurde, die er je geführt hatte

Im Alter von 75 beschrieb Camille näher, wie die Liebe ihn geheilt hatte:

Er kam aus einer Familie, die nicht funktionierte. Sein Berufsleben war nicht ohne Erfolge, ganz im Gegenteil, aber die wirkliche Befriedigung kam durch die Entfaltung in die Person, zu der er langsam geworden war: zufrieden, fröhlich, harmonisch und effektiv. Wie im Kinderbuch „The Velveteen Rabbit“ ließ er diese Entwicklung hin zu Verbundenheit und Harmonie einfach geschehen und wurde dadurch ein solider und ganzer Mensch.

Wie diese reizende Geschichte für Kinder und Erwachsene erzählt, kann nur die Liebe uns zu dem machen, was wir in Wirklichkeit sind, auch wenn wir dafür nicht die Voraussetzungen mitzubringen scheinen. Diese Liebe erfuhr Camille als Kind leider nicht und er brauchte Jahre, um Quellen zu entdecken, die diese fehlende elterliche Liebe ersetzten. Was für ihn erstaunlich war: Er entdeckte viele Quellen und sie gaben ihm langsam seine Stärke zurück. Er schloss daraus, dass der Mensch belastbarer und biegsamer ist, als gedacht, und dass er einen ganzen Berg an gutem Willen in der Begegnung mit anderen Menschen stecken sollte. Er hätte es sich nie träumen lassen, dass seine späteren Lebensjahre so anregend und erfüllend sein würden.

Das Jahr in der Klinik, so sehr es ihn veränderte, war ja nicht das Ende von Camille‘s Geschichte. Als er verstanden hatte, um was es ging, ergriff er die Initiative und entwickelte sich für die nächsten 30 Jahre explosionsartig. Das hatte Auswirkungen auf Beruf, Privat- und Geistesleben: Er heiratete und zeugte zwei Kinder, er nahm psychologische Beratung in Anspruch und er kehrte in die Kirche seiner frühen Kindheitsjahre zurück. All das erlaubte ihm die liebevolle Umgebung aufzubauen, die er in seinen Kinder- und Jugendjahren so sehr vermisst hatte und andere an den diesen beglückenden Umständen teilhaben zu lassen.

Mit 82 erlitt Godfrey Minot Camille einen tödlichen Herzinfarkt beim Bergsteigen in den Alpen, die er sehr liebte. Seine Kirche war für die Trauerfeier gerüstet. „Der Mann strahlte eine tiefe und heilige Authentizität aus“, sagte der Bischof in seiner Laudatio. Sein Sohn sagte: „Er lebte ein sehr einfaches Leben, aber es war sehr reich an Beziehungen.“ Doch vor dem Alter von 30 Jahren hatte Camille kaum nennenswerte Beziehungen. Menschen können sich ändern. Aber sie bleiben auch gleich. Camille hatte auch die Jahre vor dem Krankenhausaufenthalt mit der Suche nach Liebe verbracht. Er brauchte offenbar eine Weile, um zu lernen, wie man dabei auch erfolgreich ist.

Wie man wächst und gedeiht

Im Jahr 2009 tauchte der Autor von „Triumphs of Experience: The Men of the Harvard Grant Study“, George E. Vaillant, tief in die Studiendaten ein, um einen Zehnkampf des Wachsens und Gedeihens unter den Studienteilnehmern zu etablieren, eine Reihe von dokumentierten und erbrachten Leistungen, die viele verschiedene Facetten von Erfolg abdecken würden. Zwei der Elemente in diesem Zehnkampf hatten mit wirtschaftlichem Erfolg, vier mit mentaler und körperlicher Gesundheit und vier mit sozialer Unterstützung und Beziehungen zu tun. Dann untersuchte George E. Vaillant die Korrelation dieser Eigenschaften mit drei Lebenssituationen, auf die wir selbst wenig Einfluss haben: physische Konstitution, soziale und ökonomische Herkunft und eine liebevolle Kindheit. Die Ergebnisse waren so eindeutig wie verblüffend.

Es wurde festgestellt, dass die sozioökonomische Herkunft überhaupt keine signifikante Korrelation mit dem späteren Erfolg im Leben bei jedem Kriterium hatte. Alkoholismus und Depressionen in Familiengeschichten waren irrelevant dafür, ob man im Alter von 80 florierte oder nicht, auch Langlebigkeit ergab keine Korrelation. Geselligkeit und Extraversion, die so überaus positiv in der Anfangsphase des Auswahlprozesses der Männer der Grant Studie von Personalberatern bewertet wurden, korrelierten nicht mit einem später florierenden Leben.

Die langjährige Pflege von Beziehungen und Erfolg

Im Gegensatz zu den schwachen Korrelationen zwischen den biologischen und sozioökonomischen Variablen erlaubten eine liebevolle Kindheit und anderen Faktoren wie die Fähigkeit zu Empathie und warmherzige Beziehungen im jungen Erwachsenenalter Vorhersagen für späteren Erfolg in allen zehn Kategorien dieses Zehnkampfes. Erfolg in Beziehungen korrelierte sehr stark mit sowohl wirtschaftlichen Erfolg und starker mentaler und physischer Gesundheit, den beiden anderen großen Bereichen des Zehnkampfes.

Kurz gesagt: Es waren von liebevolle und bedeutsame Beziehungen in der Kindheit und die Fähigkeit, diese im Laufe des Lebens zu pflegen, die ein Florieren in allen Aspekten des Lebens der Männer (Versuchsteilnehmer) der Grant Studie vorhersagbar machten.

Höhe des Einkommens und der Intelligenzquotient

Es wurde z.B. festgestellt, dass es keine signifikante Differenz zwischen dem maximalen Einkommen der Männer mit einem IQ von 110 bis 115 und dem Einkommen der Männer mit einem IQ von 150+ gibt. Auf der anderen Seite verdienten Versuchsteilnehmer mit warmherzigen Müttern $ 87.000 pro Jahr mehr als jene Männer, deren Mütter gefühllos waren. Die Männer, die gute Geschwisterbeziehungen in der Jugend hatten, verdienten im Durchschnitt 51.000 $ pro Jahr mehr als die Männer mit schlechten Beziehungen zu ihren Geschwistern. Die 58 Männer mit den besten Noten für herzliche Beziehungen verdienten durchschnittlich 243.000 $ pro Jahr; Dagegen verdienten die 31 Männer mit den schlechtesten Noten für Beziehungen durchschnittlich maximal $ 102.000 pro Jahr.

Liebe und Erfolg

Wenn es um Erfolg im späteren Leben geht – auch wenn Erfolg nur in streng finanzieller Hinsicht gemessen wird – übertrumpfen gut gepflegte Beziehungen alle anderen Parameter. Und der bei weitem wichtigste Einfluss auf ein erfülltes und erfolgreiches Leben ist die Liebe. Nicht nur Liebe in den frühen Lebensphasen und auch nicht unbedingt romantische Liebe. Die Liebe in frühen Lebensphasen erleichtert nicht nur die Liebe in späteren Lebensphasen, sondern macht auch die anderen Insignien des Erfolgs, wie hohes Einkommen und Prestige, erreichbar. Sie fördert auch die Entwicklung von Bewältigungsstrategien, die Nähe zu anderen Menschen erleichtern, im Gegensatz zu Strategien, die Nähe zu anderen verhindern. Die Mehrheit der Männer, die Erfüllung gefunden haben erfuhren Liebe vor dem Alter von 30 Jahren, und die Daten deuten darauf hin, dass dies der Grund war, warum sie Erfolg und Erfüllung fanden.

Wir sind nicht verdammt, wenn unsere Kindheit trostlos war

Wir können unsere Kinderstube nicht auswählen, aber die Geschichte von Godfrey Minot Camille zeigt, dass Menschen mit einer trostlosen Jugend nicht auf ewig verdammt sind. Wenn man den Lauf eines Lebens lange genug verfolgt stellt man fest, dass Menschen sich anpassen und sich ändern, und so ändern sich auch die Faktoren, die eine gesunde Selbstregulation beeinflussen. Unsere Reise durch diese Welt ist von Unstetigkeiten und Brüchen gekennzeichnet. Niemand in der Studie wurde von Anfang an zum Scheitern verurteilt, aber niemand ist tatsächlich auch gescheitert. Die Vererbung von Genen für Alkoholismus kann einen begabten Goldjungen ins Schleudern bringen. Umgekehrt hat die Begegnung mit einer sehr gefährlichen Krankheit den unglücklichen jungen Dr. Camille von einem Leben in Einsamkeit und Abhängigkeit befreit. Wer ahnte, als er 29 Jahre alt war und die Studie ihn in die unteren drei Prozent der Kohorte hinsichtlich der Stabilität seiner Persönlichkeit eingestuft hatte, dass er als glücklicher, großzügiger und beliebten Mann sterben würde?

Nur manche verstehen, dass Glück nur der Wagen ist, Liebe aber das Zugpferd. Und unsere so genannten Abwehrmechanismen, unsere unfreiwillige Formen der Bewältigung von vielen Lebenssituationen, sind in der Tat sehr bedeutsam. Bevor Camille 30 Jahre alt war, war er von seiner narzisstischen und hypochondrischen Art abhängig, mit seinem Leben und seinen Gefühlen fertig zu werden; ab seinem 50sten Lebensjahr verwendete er empathischen Altruismus und einen pragmatischen Stoizismus um das Leben so zu nehmen, wie es eben kam. Die beiden Säulen des Glücks, die durch die 75 Jahre dauernde Grant Studie ans Licht kamen, und die sich am Leben von Dr. Godfrey Minot beispielhaft zeigten, sind Liebe und ein reifer Bewältigungsstil, der Ausgewogenheit und Ausgleich sucht.

Vor allem zeigt die Studie, wie sich Männer, wie Dr. Camille, an die Erfordernisse des Lebens angepassten und dabei ihren Weg fanden – ein Prozess der Reifung, der sich im Laufe der Zeit entfaltet. In der Tat ist die Grant Studie ein Instrument, welches das Studium der Zeit möglich macht, wie ein Teleskop die Geheimnisse der Galaxien und das Mikroskop die Welt der Mikroben enthüllt.

Durchhaltevermögen und Bescheidenheit

Für Forscher kann eine Longitudinalstudie über lange Zeiträume ein Fels sein, auf dem fein ausgearbeitete Theorien gründen, aber sie kann auch ein Verfahren zur Entdeckung robuster und unveränderlicher Wahrheiten sein. Zu Beginn der Studie im Jahr 1939 dachte man bspw., dass Männer mit männlichen Körper-Typen – breiten Schultern und einer schlanke Taille – den größten Erfolg im Leben erreichen würden. Das erwies sich als eine der vielen Theorien, denen die Studie ihre Grundlage dadurch entzog, dass sie dem Leben dieser Männer so lange folgte. Man benötigt Durchhaltevermögen und Bescheidenheit, um die besten Lektionen aus der Grant Studie und den Lebenserfahrungen der Studienteilnehmer zu ziehen, weil der Prozess der Reifung aus uns allen Lügner macht.