Was genau ist Kreativität?

Viele von uns nehmen an, dass Kreativität eine Eigenschaft ist, die normalerweise jedes Kind besitzt. Wie hätten wir sonst Laufen, Sprache, Sozialverhalten und Schulwissen u.v.a. erlernen können? All dies ist uns nicht angeboren – und für Erwachsene sind diese Fähigkeiten in der Regel unproblematische Gewohnheiten, deren halbautomatische Ausführung nicht mehr viel Aufmerksamkeit benötigt! Es lohnt sich, die schwierigen Ausgangsbedingungen für diese erworbenen Fähigkeiten etwas genauer zu betrachten:

Kreativität beim Laufen lernen

Bis wir Menschen vom Krabbeln zum Laufen kommen, müssen wir etwa 1400 teils schmerzhafte Versuche unternehmen, bis wir endlich die ersten paar Schritte Laufen. Und wenn wir endlich Laufen, erinnern wir uns nicht zuerst voller Bedauern daran, wie schwierig es war, endlich Laufen zu können. Die Kinder strahlen doch, wenn sie endlich Laufen können, sie sind stolz und überglücklich über das endlich erreichte Ergebnis!

Kreativität beim Erlernen der Sprache

Zum Erlernen der Sprache muss sich zuerst durch Wachstum die Streckung des Kehlkopfs ausbilden, sonst können Kinder Worte aus anatomischen Gründen nicht sprechen. Dann müssen die motorischen Fähigkeiten im Gehirn ausgebildet werden, um den Kehlkopf überhaupt für das Sprechen richtig zu „bedienen“. Und dann müssen wir die Bedeutung von Wortlauten, die wir heute als Wörter verstehen, erlernen und verstehen. Und das alles, bevor sich unser Intellekt (sprachliches Erfassen von geistigen Zusammenhängen, beginnt ca. ab dem 6. Lebensjahr) zu entwickeln beginnt!

Kreativität beim Erlernen von Sozialverhalten

Die Grundregeln des Sozialverhaltens haben die meisten Menschen nach der Pubertät erlernt. Es geht im Kern darum, welchen nützlichen Beitrag nach eigenen Talenten und Interessen jeder zum Wohle des Ganzen leisten kann, ohne dabei sich selbst zu vergessen. Für den Säugling geht es um die egoistische Durchsetzung von Bedürfnissen nach Ernährung, Zuwendung und Wärme. Für Erwachsene geht es darum, wie man bspw. als Mutter die egoistischen Bedürfnisse der eigenen Kinder entgegen den eigenen individuellen (und egoistischen) Wünsche erfüllen und begrenzen kann, damit Kinder heranwachsen und gedeihen können. Dieses Sozialverhalten kann nicht allein aus einem Ratgeber erworben werden. Eltern erleben die Grenzen von Ratgebern spätestens, wenn die Kinder in die Pubertät kommen und Vernunft zur Regulierung von Gemeinsamkeit an ihre Grenzen stößt.

Kreativität beim Erlernen von Schulwissen

An die Schule haben wir alle intensive Erinnerungen, gute oder weniger gute. In der Schule lernen wir, was wir uns außerhalb unserer Herkunftsfamilie wissen müssen, damit wir uns in der Welt zurechtfinden, die wir mit allen Menschen teilen. Wenn wir uns nur vor Augen führen, wie weit der Weg vom Erlernen der ersten Zahlen bis hin zum sinnvollen Gebrauch unserer Kreditkarte mit PIN-Nummer heute gewesen ist, wird uns bewusst, wie viele Bemühungen wir für dieses Ziel auf uns genommen haben.

Kreativität und lebenslanges Lernen

Heute sprechen wir von lebenslangem Lernen: Wir befinden uns in einer sich ständig neu erfindenden Gesellschaft. Wer nicht mitlernt und neue Gesetze, Basisprogramme am Computer und Handy und Fertigkeiten immer wieder neu erlernt, wird die permanent erforderliche Anpassung an die sich wandelnden Lebensbedingungen nicht leisten können und dadurch den Anschluss an diese Lebenswirklichkeit verlieren. Viele Menschen sind besorgt, dass sie dieser kontinuierliche Wandel überfordert.

Kreativität und Gehirn

Kreativität hat keinen Platz im Gehirn, ähnlich wie unser Fühlen oder Spüren. Sie findet nicht nur in der rechten Gehirnhälfte statt, wie es die Split Brain Theorie von Roger Sperry nahelegt. Kreativität greift immer auf das ganze Gehirn zu. Und vermutlich auch auf unseren ganzen Körper. Wir spüren manchmal, dass wir von einer Lösung noch meilenweit – oder nicht mehr so weit – entfernt sind. Kreativität nutzt alle Systeme unseres Bewusstseins, Unbewussten, unsere Sinne, Emotionen und Kognitionen, unsere physische Stärke und unsere Intuition. Kreativität macht aus diesen Bereichen unserer Persönlichkeit ein leistungsfähiges Team, das mehr ist, als die Summe seiner Teile.

Es gibt ein sogn. Ruhezustandsnetzwerk in unserem Gehirn, das in Ruhe aktiviert wird und sich ausschaltet, wenn wir uns aktiv und unter Druck mit der Lösung von Aufgaben beschäftigen. Dieses Netzwerk wird aktiv, wenn Menschen Tagträumen und wenn sie in Ruhe Zukunftspläne schmieden. Das Ruhezustandsnetzwerk erlaubt uns, Bedeutung und Sinn aus unseren persönlichen Erfahrungen zu ziehen, andere Perspektiven zu erfahren, den Sinn von Geschichten zu verstehen und unsere emotionalen und kognitiven Eindrücke zu reflektieren. Es erstaunt nicht, dass dieses Netzwerk auch unsere kreativsten Ideen hervorbringt. Mit ihm lernen wir in einem inaktiven oder passiven Zustand. Es funktioniert nur eingeschränkt, wenn wir Angst haben oder traurig sind.

Kreativität ist ein Vulkan

Die oben beschriebenen Schlaglichter auf die Lernerfahrungen unseres Lebens sprechen eindeutig dafür, dass wir alle schon von Beginn unserer Existenz an unglaublich kreativ gewesen sind! Wir kannten den Weg zum Ziel nicht, haben uns aber unbeschwert auf die Reise begeben und sind dran geblieben. Unserer Kreativität konnte sich letztlich nichts in den Weg stellen, so groß ist ihre Macht! Wir alle haben aus den hilflosen und schier aussichtslosen Situationen eines Säuglings den Weg ins Erwachsenenleben durch Lernen aus Erfahrung gefunden, die Basis dafür ist unser individueller Vulkan aus Kreativität. Das ist unsere wahre Identität. Es erscheint mir angemessen, dass wir uns für diese und viele andere Leistungen an dieser Stelle den Respekt vergegenwärtigen, den wir für diese Leistung verdient haben – auch wenn andere diese Leistung gleichermaßen erbracht haben. Beziehen wir dazu ruhig alle in diesem Artikel nicht angesprochenen Bemühungen, Ergebnisse und Leistungen in unserem Leben mit ein!

Auf diesem Vulkan aus Kreativität sitzen wir noch heute. Nur scheint der Krater ruhiger geworden oder auch erloschen zu sein. In meinem nächsten Beitrag geht es darum, wie man Kreativität wiederbeleben kann.