Herz vor AugenHistorische Wurzeln des Coaching

Coaching, besonders das im Business Umfeld und zur Leistungsoptimierung angewandte, hat seine Wurzeln in den ersten Schritten der Familientherapie, die in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts liegen. Damals war es ein Meilenstein für die Psychotherapie, Zustände, die von Individuen subjektiv als Einschränkungen und Handlungsbarrieren wahrgenommen werden, nicht nur als Geschehen in der Psyche eines Menschen, sondern als Folge der Interaktion mit anderen Menschen zu verstehen. Damals hatte die Wissenschaft begonnen zu verstehen, dass auf jede individuelle Aktion auch eine Reaktion aus der Umgebung erfolgt. Diese Erkenntnis ist die Basis des systemischen Coachings.

Unser Denken, Fühlen und Handeln wird vom Kontext bestimmt

Nach der systemischen/kybernetischen Sichtweise gibt es keine ausschließliche objektive Realität: Wir interpretieren stattdessen die „Wirklichkeit“ in Abhängigkeit von unserer Umgebung aus unseren Wahrnehmungen und unserer Erfahrung. Ein Beispiel dafür könnte sein, dass wir während der Arbeit als umgänglicher und belastbarer Mitarbeiter gelten, weil uns die Arbeit interessiert und wir damit private Belastungen vergessen; im privaten Umfeld könnten wir dagegen Eigenschaften von Strenge und ein aufbrausendes Wesen an den Tag legen, weil wir mit verschiedenen Aspekten unseres Privatlebens einfach unzufrieden sind und dagegen protestieren. In beiden Situationen sind wir dieselbe Person, zeigen aber situationsabhängig andere Eigenschaften und unsere weniger angenehmen Eigenschaften meistens auch noch ungewollt. Die uns umgebende Wirklichkeit ist damit ein Schlüssel zum Verständnis unserer tatsächlichen Reaktionsmuster.

Coaching für Leistungen am Arbeitsplatz

Es ist deshalb naheliegend, dass Probleme am Arbeitsplatz meistens nicht nur das Problem eines einzigen Mitarbeiters oder einer Führungskraft sind, sondern aller mehr oder minder direkten Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeiter und Kunden des Betroffenen. Deshalb ist es für die Lösung von Team- und Sachfragen prinzipiell von Bedeutung, alle Beteiligten einzubeziehen. Denn jede Zusammenarbeit hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, wobei die Beziehungsqualität den sachlichen Inhalt der Kommunikation dominiert. Im Klartext: Wenn die Beziehung stimmt, dann lassen wir auch mal Fünfe gerade sein und wenn sie nicht stimmt, dann können wir pingelig sein. In der Praxis würde die Vorgehensweise, alle Beteiligten miteinzubeziehen, zu viel Arbeitszeit kosten. Und tatsächlich ist meistens nur eine Person die betroffene, weil ihre Leistung manchmal aus unerklärlichen Gründen nachlässt oder die Erwartungen nicht erfüllt.

Handlungsbarrieren am Arbeitsplatz durch Coaching auflösen

Tatsächlich kommt ein Coaching meistens mit dem Betroffenen allein aus, weil alle Aspekte der Situation, aus der man das Problem psychologisch in bestimmten Kontexten konstruiert, immer im Gedächtnis vorliegen, wenn auch nicht bewusst. Insofern kann individuelles Coaching ein Problem lösen, das systemische Ursachen und Auswirklungen hat. Nur in wenigen Fällen ist das Hinzuziehen von weiteren Beteiligten im System sinnvoll oder nötig.

Zum Beispiel wird ein Mitarbeiter Chef in dem Team, in dem er vorher Mitarbeiter war. Nach dem „Ritterschlag“ bemerkt die neue Führungskraft, dass ein früherer Kollege schlechte Stimmung gegen sie schürt. Das verunsichert den neuen Chef und macht ihn wütend, weil die Aktivitäten des früheren Kollegen nicht greifbar sind. Insgesamt wird der neue Chef durch diese verdeckten Aktivitäten geschwächt, und kann seiner neuen Führungsaufgabe nur mit großer Aufregung gerecht werden.

Coaching ist nicht genug

Die normale Vorgehensweise beim Coaching ist es, Ziele zu identifizieren und Maßnahmen festzulegen, mit denen diese Ziele vermutlich erreicht werden können. Dieser Prozess soll nachgehalten werden, um für den Fall steuern zu können, wenn das Ziel aus dem Ruder zu laufen droht. Klassisches Coaching geht in der oben dargestellten Situation weniger vom Problem, als von seiner Lösung aus, es ist also eine Vorgehensweise, die auf dem positiven Denken beruht. Ein Coach erarbeitet deshalb mit dem noch wenig erfahrenen Chef eine Strategie für den betriebswirtschaftlich sinnvollen Umgang mit dem Störenfried. Zusätzlich wird eine individuelle Sichtweise entwickelt, die dem neuen Chef erlaubt, sich subjektiv nicht zu sehr mit dem Störenfried zu belasten und ihm kein weiteres „Futter“ zu geben. Es ist schließlich normal, dass man um seine Beförderung beneidet wird! Mit dieser Vorgehensweise sollte das Problem lösbar sein.

Die oben beschriebene Vorgehensweise hat einen Pferdefuß: unsere Emotionen. Wir haben nur zu gern die Vorstellung, dass wir mit unserem Willen frei über unser Denken und unsere Handlungen entscheiden. Dass dem nicht so ist, hat der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann überzeugend nachgewiesen und damit die Betriebswirtschaft erschreckt. Aus dem Alltag kennen wir, dass wir emotional reagieren, bspw. beim Autofahren, speziell wenn jemand nach unserer Meinung eine Verkehrsregel zu unserem Nachteil verletzt, auch wenn dieser Verstoß für unser Leben bedeutungslos ist. Wenn uns eine Laus im Geschäftsleben über die Leber gelaufen ist, dann haben wir jemand auf dem „Kieker“, egal ob dies für unsere Karriere von Bedeutung ist oder nicht. Und: Die Prämien, die andere bekommen haben, haben sie wahrscheinlich nicht verdient; sind Sie, geneigter Leser, nicht auch dieser Meinung? Nach den Untersuchungen von Kahnemann entbehren übrigens die Prämien von Wallstreet Bankern, unabhängig von deren Höhe, tatsächlich jede rationale Grundlage. Emotionen??

So geht es auch unserem neu ernannten Chef, der Führungskraft in dem Team wurde, in dem er vorher Kollege war. Nach dem oben skizzierten Coaching bleibt das Gefühl, eine Laus im Pelz sitzen zu haben. Dieses Gefühl kann einen Menschen verfolgen und martern.

Therapie oder Coaching: Ist das die richtige Frage?

Kriterien für Therapiebedürftigkeit sind, wenn ein Problem länger als 3 Monate ohne Lösung bleibt und der Zustand der Betroffenheit und die negativen Emotionen willentlich nicht mehr frei reguliert werden können. Diese Beeinträchtigung des ganzen Lebens stört unsere Konzentration, macht unser Denken schwerfällig, schränkt unsere Leistung ein, führt zu Schlafstörungen und körperlichen Symptomen oder bspw. zu einer Unfähigkeit, Freude, Liebe oder Interesse wahrzunehmen. Diese Zustände können die Folge davon sein, dass wir nicht mehr von dem Gedanken loskommen, dass eine (schlimme) Handlung in unserer Vergangenheit unsere Zukunft irgendwann beeinträchtigen wird, wie bspw. die Aufdeckung falscher akademischer Doktorwürden in letzter Zeit* – oder aber der ungewollt quälende Gedanke, dass die Laus im eigenen Team doch wieder Unmut schüren könnte…

Die gängige Lehrmeinung vieler Coaching Ausbildungsinstitute ist, dass man zum Zweck der Therapie eine individuelle Lebensgeschichte vollständig aufarbeiten müsse. Dies trifft teilweise für psychotherapeutische Verfahren zu, die es vor bspw. 1990 noch nicht gegeben hat. In der Zwischenzeit hat sich allerdings auch eine Menge auf dem Feld der Psychotherapie getan, speziell im Hinblick auf die psychotherapeutische Behandlung von Emotionen und Kognitionen u.v.a. Die Differenzierung zwischen Coaching als konstruktives Problemelösen (und damit nicht für Kranke und Therapiebedürftige geeignet) und Therapie, als Aufarbeiten der Lebensgeschichte, ist deshalb heute konstruiert und überlebt. Es existieren heute psychotherapeutische Verfahren, die ohne weitgehende Aufarbeitung der Lebensgeschichte tiefgreifenden emotionalen Wandel ermöglichen.

Dies bedeutet für unsere Führungskraft mit der Laus im Pelz, die schlechte Stimmung schürt, dass man ohne Bearbeitung der Lebensgeschichte die ungewollte Erregung bezüglich der Laus in meistens kurzer Zeit loswerden kann. Dann kann die Laus unaufgeregt, ruhig und gelassen zur Umsetzung der Firmenziele geführt werden, unbelastet, so wie es dem normalen Wollen und Können der Führungskraft entspricht. Das ist mehr als die Planung und Umsetzung von Zielen und die Entwicklung neuer Perspektiven durch ein Coaching.

Ein Psychologe kann ein optimaler Coach sein

Der Coaching Prozess hat systemische und betriebswirtschaftliche Aspekte. Er hat aber auch eher irrationale und emotionale Aspekte, die der Coachee üblicherweise nicht willentlich steuern kann. Ein Psychologe mit der entsprechenden Erfahrung bzw. Ausbildung in der Betriebswirtschaft kann einen Coaching Prozess oft optimal begleiten.

 

* Diese Sorgen machen sich übrigens nicht die Menschen, die genau wissen, dass sie betrogen haben, sondern gerade Menschen, die alles daransetzen, nur ihr Bestes zu geben.