„Blick in die Zukunft

Selbst bei 300 Stundenkilometer sehen die Zuschauer von Formel-1-Rennen den Ferrari von Michael Schumacher stets dort, wo er sich tatsächlich befindet – ein Umstand, für dessen Erklärung es bislang nur Hypothesen gab. Denn das menschliche Gehirn ist dafür eigentlich zu langsam: Die auf die Netzhaut treffenden Signale gelangen erst mit einer Verzögerung von bis zu 100 Millisekunden ins Großhirn, für Schumi Zeit genug, um weitere acht Meter zurückzulegen. Nun haben Biologen an der Harvard University das Rätsel gelöst, wie Mensch und Tier die Trägheit ihrer Datenverarbeitung überlisten. „Vorwegnehmendes Erkennen beweglicher Stimuli durch die Netzhaut“ nennen sie das Phänomen. Bislang vermutete man, daß das Gehirn den kommenden Bewegungsablauf vorwegnimmt. Doch bei trickreichen Versuchen mit Kaninchen und Salamandern konnten die Harvard-Forscher nachweisen, daß schon die Zellen der Netzhaut die richtige Position beweglicher Objekte zu antizipieren vermögen. Auch vor dem Zeitalter des Automobils dürfte dies sehr nützlich gewesen sein: Für Beutetiere kann es über Leben und Tod entscheiden, ob sie vom Himmel herabstürzende Habichte oder angreifende Löwen am richtigen Ort sehen können. „Bereits in einem sehr frühen Stadium der Evolution des visuellen Systems“ sei der „Vorausschau-Mechanismus“ entstanden, folgert die Zeitschrift „Nature“ in einem Kommentar zu der Entdeckung.“

DER SPIEGEL 13/1999