2014-09-01 10.29.08kSchnelles Urteilen: ein Problem?

Wir befinden uns immer wieder in Situationen, in denen wir Gedanken, Gefühle und Handlungen bzw. vermeintliche Fehler von uns oder anderen, oder auch Ereignisse, schnell abwertend und überkritisch beurteilen. Wir sagen dann beispielsweise: „So ein Schwachsinn“, und fühlen uns zu einer Verurteilung veranlasst. Oder: „Das ist ja furchtbar, wie kann man so [Synonym für schlecht] sein“, wir geben anderen Tiernamen und Schlimmeres. Wir schütteln den Kopf und fühlen häufig eine grimmige Freude darüber, dass wir eine negative Beurteilung abgegeben haben. Wir sind ja die wissende und gute beurteilende Instanz, und die ist natürlich viel besser, als die negativ beurteilte.

Unsere Mimik und Gestik adaptieren dieses negative Urteil. Würden wir in der Situation ein Foto von uns machen, würden wir es anschließend vermutlich zerreißen oder löschen.

Nützliches Beurteilen

Natürlich ist es erforderlich und sinnvoll, das Nützliche und Förderliche vom für uns Nachteiligen und Hemmenden in unserem Leben zu unterscheiden. Das Charakteristische an dieser nützlichen Art von Beurteilungen ist, dass sie meistens in einer gewissen Ruhe und ziemlich unaufgeregt erfolgen, auch wenn sie manchmal lange dauern. Diese Beurteilungen sind auch mit einer gewissen Leichtigkeit verbunden, wir entscheiden und urteilen mit einem guten und ausgewogenen Gefühl. Beurteilungen und Entscheidungen dieser Art belasten nicht, sie sind irgendwie normal: nicht nur für uns, auch für andere. Wir lernen mit ihnen durch Versuch und Irrtum, wie wir besser einschätzen, beurteilen und in der Folge entscheiden können.

Die Folgen von schnellen Urteilen

Wir beurteilen aber auch, wenn wir schlechte Gefühle haben, verärgert und unter Druck sind, wie einleitend beschrieben. Diese negativen Beurteilungen können vom Ergebnis her falsch oder richtig sein, fast genau wie die unaufgeregten Beurteilungen. Sie haben aber den Charakter einer unaufschiebbaren oder zwingenden Notwendigkeit, wir müssen sofort und meistens negativ urteilen. Sie haben zusätzlich über das sachliche Ergebnis der Beurteilung hinaus die Konsequenzen, dass sie uns und andere Menschen belasten und verletzen. Das ist ein Nachteil.

Die gescholtene Ehefrau

Ein Bekannter hatte mit seiner Frau und einem befreundeten Paar in der Toskana einen gemeinsamen Urlaub verbracht. Die vier hatten im Sommer ein Ferienhaus gemietet.

Nach dem Frühstück hatten die vier immer die Angewohnheit, den Esstisch gleich aufzuräumen und danach die Küche. Nur so konnten sie der Ameisenplage vor Ort einigermaßen Herr werden.

Nachdem die Frau meines Bekannten den Küchenabfall nach dem Frühstück in die Mülltonne getragen hatte, kam sie zu meinem Bekannten mit einem reumütigen Blick zurück, einen 50 € Schein in ihrer Hand. Sie hielt ihm den etwas zerknüllten Schein vor die Nase und fragte in einem etwas zerknirschten Ton: „Weißt Du, wo ich diesen Schein gerade eben gefunden habe?“ Mein Bekannter antwortete überrascht: „Nein, wo hast du ihn denn gefunden?“ Sie antwortete immer noch geknickt: „In der Mülltonne. Ich hatte völlig vergessen, dass ich mir gestern 50 € in die Hosentasche gesteckt hatte. Gestern Abend habe ich meine Papiertaschentücher aus der Hosentasche in die Mülltonne geworfen, und mit ihnen versehentlich den 50 € Schein.“

Mein Bekannter gestand mir, dass er in diesem Moment explodiert ist und Sätze von sich gegeben hat, die er sonst nicht aussprechen würde. Es ging in die Richtung: Wie kann man nur so dumm sein, sie hätte das gute gemeinsame Leben nicht verdient, sie könnte das Geld nicht zusammenhalten etc.
Seine Frau stimmte ihm innerlich irgendwie zu, war aber von der Heftigkeit seiner Reaktion ziemlich verletzt. Er würde das zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu spüren bekommen…

Mein Bekannter gestand mir, dass es ihm eigentlich prinzipiell widerstrebt, so heftig zu reagieren, weil er überzeugt ist, dass alles im Leben für irgendetwas gut ist, auch das Schlechteste. Er hätte eigentlich gar nicht so heftig reagieren brauchen, sein reflexhaftes Verhalten war ihm im Nachhinein ziemlich peinlich.

Zwei oder drei Minuten nach dem heftigen Dialog der Eheleute kam plötzlich der Ehemann des anderen Paares auf die Frau meines Bekannten zu. Dieser sagte ihr: „Gottseidank hast du gerade dein Erlebnis mit dem 50 € Schein erzählt!“ Als mein Bekannter diesen Satz hörte, horchte er wieder auf. Er fragte sich etwas unsicher, was er jetzt wohl als Nächstes zu hören bekommen würde.

Er hörte den Ehemann des anderen Paares zu seiner Frau sagen: „Ich hatte gestern Abend, ähnlich wie du, 50 € in die Hülle meiner Zigarettenschachtel gesteckt, um sie später in meinen Geldbeutel zu tun. Ich hatte das aber vergessen und meine Zigarettenschachtel mit den 50 € in die Mülltonne geworfen, weil die Zigarettenschachtel leer war. Als du vorher deinem Mann die Geschichte erzählt hast, ist mir das siedend heiß eingefallen. Und jetzt habe ich meinen 50 € aus der Mülltonne gefischt, es war nicht angenehm, aber: Ich habe ihn wieder.“ Und mein Bekannter hörte noch, wie der Ehemann des anderen Paares lächelnd: „Danke“ zu seiner Frau für deren Geschichte sagte…

Soweit diese wahre Geschichte.

Selbstwert

Schnelle, heftige und negative Beurteilungen stehlen Teile von unserem Selbstwert. Wir sind verunsichert, wenn wir uns selbst herabsetzen und wenn wir mit diesem Verhalten zusätzlich die Menschen, zu denen wir in Beziehung stehen, verletzen – nach dem schnellen Urteil. Wir gleichen diese Verunsicherung häufig durch vermehrte Eitelkeit aus. Das ist meinem Bekannten bei dieser Gelegenheit wieder einmal schmerzlich bewusst geworden, für diese Erkenntnis war die Erfahrung der Schelte seiner Frau immerhin gut.

Psychologische Tipps

Kontemplieren Sie kurz die Folgen von schnellen und abwertenden Urteilen in Ihrem privaten und beruflichen Umfeld: Kann eine schnelle und abwertende Beurteilung überhaupt nützlich sein? Man könnte zu der Ansicht kommen, dass die Antwort „nein“ lauten müsste. Versuchen Sie also, von schnellen negativen Beurteilungen sich selbst und anderen gegenüber eine Zeit lang zu fasten, beispielsweise beim Autofahren und auch sonst. Beobachten Sie dabei die Auswirkungen auf Ihre Mimik und Gestik und Ihre generelle Angespanntheit. Fragen Sie sich, wenn Ihr negativer Beurteilungsreflex durch etwas Schlechtes getriggert wird, was das auf den ersten Blick nicht ersichtlich Gute an dieser nur scheinbar ausschließlich schlechten Erfahrung sein könnte. Schließlich sind alle Dinge und Erfahrungen aus Gut und Schlecht zusammengesetzt und wir wollen ja nie einseitig, sondern umsichtig, sein. Es lohnt sich, vor schnellen Urteilen ein bißchen Zeit mit dem Thema zu verbringen, sonst hält man sein Vorurteil für ein Urteil – mit unangenehmen Konsequenzen.