Sind Sie depressiv?

Eine im Jahr 2011 erstmals publizierte Studie der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore von Ramin Mojtabai hat an 5639 Teilnehmern in den USA untersucht, inwieweit eine von Ärzten in niedergelassenen Praxen diagnostizierte Depression den klinischen Kriterien für die Diagnose einer Depression überhaupt entsprochen hatte. Die Untersuchungsergebnisse wurden durch einen Vergleich der tatsächlich festgehaltenen Diagnosen mit den Ergebnissen von nachfolgenden strukturierten Interviews gewonnen.

Es besteht danach eine sehr gute Chance, dass die meisten Menschen mit der Diagnose Depression gar keine schwere Depression haben. Sie erleben meistens nur eine – auch ohne Medikamente vorübergehende – stressbedingte depressive Verstimmung, die gut mit Psychotherapie aufgefangen werden kann.

Insgesamt konnten in dieser Studie nur 38,4 % Übereinstimmung zwischen der Diagnose Depression eines Arztes in niedergelassener Praxis und dem strukturierten Interview festgestellt werden. Bei den über 65-jährigen (Rentnern) deckten sich die Untersuchungsergebnisse sogar nur zu 14,3%. Die Diagnose Depression hatte die größte Übereinstimmung bei Teilnehmern mit besserer Ausbildung und schlechterem gesundheitlichem Allgemeinzustand. Die Mehrheit der Untersuchungsteilnehmer hatte Antidepressiva verschrieben bekommen.

Man darf also die Schlussfolgerung ziehen, dass die Diagnose von Depression – zumindest in den USA – viel zu häufig erfolgt. Es gibt nach Meinung von R. Mojtabai einen dringenden Bedarf, die Diagnose von Depression und auch die anderer psychischer Erkrankungen genauer zu stellen.

So sehr Antidepressiva bei schweren Depressionen für die Betroffenen hilfreich sind, so sehr verstellen sie den Blick auf die Heilungschancen, die sich in einer Psychotherapie für eine leichte bis mittelschwere Depression ergeben. Dies ist die Meinung von Anne Tonkin von der Universität Adelaid.

Kriterien für die Diagnose einer depressiven Episode

Die folgenden Hauptsymptome einer depressiven Episode müssen seit mindestens 2 Wochen bestehen und durch Selbstbeobachtung oder Beobachtung durch andere Menschen verifiziert sein:

  • Depressive Stimmung (fast den ganzen Tag, fast jeden Tag)
  • Interesse- und Freudlosigkeit (fast den ganzen Tag, fast jeden Tag)

Dazu kommen die folgenden anderen Symptome

  • Antriebsschwäche/Energielosigkeit/Müdigkeit (fast den ganzen Tag, fast jeden Tag)
  • Schlafstörungen (fast jeden Tag)
  • Körperliche Unruhe und Verlangsamung vieler Aktivitäten
  • Gefühle von Wertlosigkeit und übertriebene (wahnhafte) Schuldgefühle (fast jeden Tag)
  • Gewichtsverlust ohne Diät, Appetitmangel (oder aber auch gesteigerter Appetit)
  • Denk-, Konzentrations- und Entscheidungsschwäche (fast jeden Tag)
  • Unspezifische wiederkehrende Suizidgedanken oder Planung von Suizid (nicht: Angst vor dem Sterben)

Wenn diese Symptome nicht so häufig auftreten, spricht dies eher gegen eine depressive Verstimmung. Wenn die obengenannten Symptome die Folgen bspw. eines Trauerfalls sind, durchläuft man keine depressive Episode.

Schwere Depression

Die Symptome einer depressiven Episode müssen zu ernsthaften Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen und anderen wichtigen Bereichen des täglichen Lebens führen. Die Symptome dürfen nicht die Folge von einem Substanzmissbrauch oder von körperlichen Störungen (bspw. Hypothyreose) sein.

Wenn die Symptome länger als 2 Monate bestehen oder sie durch eine deutliche Beeinträchtigung, krankhafte Beschäftigung mit Wertlosigkeit, Suizidgedanken, Verlust des Realitätsbezugs oder psychomotorische Verlangsamung gekennzeichnet sind, spricht man von einer schweren Depression. Eine depressive Episode muss weitere differenzialdiagnostische Kriterien erfüllen, damit eine schwere Depression diagnostiziert werden kann. U.a. müssen körperliche Ursachen in Betracht gezogen werden.

Eine schwere Depression liegt auch vor, wenn zwei oder mehrere depressive Episoden vorgekommen sind. Das Kriterium dafür ist eine überwiegend symptomfreie Periode von mindestens zwei oder drei aufeinanderfolgenden Monaten zwischen zwei depressiven Episoden.

Psychotherapie und schwere Depression

Es muss grundsätzlich festgehalten werden, dass die Emotionen Angst und Traurigkeit weit weniger voneinander unterschieden werden können, als man dies meinen möchte. Insofern können auch Angstgefühle eine wesentliche Rolle bei Depressionen spielen.

Das Wiederkehrende einer depressiven Episode kann dadurch ausgelöst sein, dass eine Befürchtung, bspw. einen geliebten Partner zu verlieren, sich wieder aktualisiert. Oder die Hoffnung, die depressive Episode für immer los zu sein, hat sich nicht erfüllt (u.v.a.). Insofern ist auch in solchen Fällen eine Psychotherapie durch einen Psychologen eine ursächliche Behandlung von schweren Depressionen.